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Zeitzeugeninterview mit Herrn Dr. Klaus Gehrcke

Ich bin damals eher ein Befürworter der Nutzung der Atomenergie gewesen, aus sehr pragmatischen Gründen: Einerseits, weil auch ich gesehen habe, dass die DDR auf Dauer nicht von Braunkohle alleine ihre Elektroenergieversorgung sicherstellen können würde. Und ich habe das ehrlich gesagt auch für eine Hochtechnologie gehalten und als relativ junger Mensch damals, als frisch ausgebildete Physiker, war das für mich auch eine Herausforderung. Ich hab es durchaus begrüßt, dass die DDR diesen Weg gegangen ist.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat mich außerhalb meines Dienstes für das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz erwischt. Ich hatte damals gerade einen dreimonatigen sogenannten Reservedienst bei der Nationalen Volksarmee abzuleisten und die ersten Nachrichten über dieses Unglück hatten mich während eines Wachdienstes erwischt, irgendwo um den Zeitraum 28., 29. April.

Ich sollte aber wenige Tage später wieder zum Dienst erscheinen und war natürlich hoch gespannt, was mich dann erwarten würde, weil ich in der Tat das Gefühl hatte, dass ich jetzt gebraucht wurde, dass im großen Stil Umweltmessungen gemacht werden müssten und das trat dann auch ein. Ich bin also am - ich glaube es war der fünfte Mai - dann wieder zum Dienst erschienen. Da wartete man schon händeringend auf mich. Wir hatten zwar Experten, die auf Umweltradioaktivitätsmessungen spezialisiert waren und dazu gehörte ich nicht, aber deren Kapazitäten reichten in dieser Situation bei weitem nicht aus. Und ich war dann in den nächsten Tagen und Wochen damit beschäftigt zu improvisieren, Messeinrichtungen aufzubauen, mit denen die Vielzahl von Proben, die im damaligen Staatlichen Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz eingingen, auch gemessen werden konnten auf Radioaktivität.

Es gab andere Herangehensweisen, insofern als nach meiner Erinnerung die DDR ein Problem hatte. Sie wollte nach Möglichkeit den Reaktorunfall und seine Folgen herunterspielen. Man hatte in der DDR das Problem, dass man stark auf den Ausbau der Kernenergie setzte und Informationen, Meldungen, die Besorgnisse in der Bevölkerung hervorriefen, waren nicht unbedingt willkommen. Insofern gab es von Anfang an eher die Tendenz, das Ereignis klein zu reden.

Zusätzlich passte natürlich überhaupt nicht ins Bild, dass das radioaktive Cäsium und das radioaktive Jod eben aus der Sowjetunion stammten. Ich glaube man hätte es sehr wohl anders bewertet, wenn es aus dem Westen Deutschlands oder aus Westeuropa zu uns gekommen wäre.

Man hätte es, denke ich, nicht vom radiologischen Standpunkt her anders bewertet, aber politisch hat das natürlich eine ganz andere Dimension gehabt. Es war die Zeit, in der die Sowjetunion ohnehin im Umbruch war, es war die Gorbatschow-Zeit. Man hatte ohnehin Sorge, dass das gesamte Konstrukt "Sozialismus, Kommunismus" irgendwo ins Wanken geraten könnte und da war der Unfall von Tschernobyl natürlich durchaus auch von einer gewissen Relevanz. Wir alle wissen das Tschernobyl relativ weit weg von Deutschland war. Die Auswirkungen auf Deutschland und auch auf die DDR waren spürbar, wenngleich nicht dramatisch. Insbesondere auch in der DDR nicht dramatisch. Aber sie waren eben weiterhin spürbar und die Dramen, die sich dort direkt auch abgespielt haben, vor Ort in Tschernobyl, die hätte ich mir in den dichtbesiedelten Gebieten um die Kernkraftwerke in der DDR oder in der Bundesrepublik nicht vorstellen mögen.

In der Folge des Reaktorunfalls von Tschernobyl habe ich schon stärker darüber nachgedacht, ob die Kernenergienutzung sinnvoll und vertretbar ist. Für mich ist es auch eine Frage welche Alternativen man hat. Ich denke, man hat heute Alternativen, es gibt alternative Energiequellen, es gibt nicht mehr diese unbedingte Abhängigkeit von der Kernenergie. Und im Übrigen hat es inzwischen natürlich auch noch andere Ereignisse gegeben. Fukushima. Das alles darf man nicht vergessen. Also aus meiner Sicht hat die Kernenergie, diese Technologie letztlich ihre Existenzberechtigung verloren.

Stand: 20.04.2016

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