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Zeitzeugeninterview mit Herrn Dr. Rolf Dehos

Ich fuhr auf Dienstreise – völlig unabhängig von Tschernobyl – auf Dienstreise nach Bonn zu einer Bund-Länder-Sitzung und traf im Zug zufällig einen Kollegen, einen Meteorologen, der auch auf Dienstreise war zu einer anderen Sitzung nach Bonn. Wir unterhielten uns dann über die Zeitungsmeldungen, dass hier offensichtlich irgendwo in Tschernobyl was passiert sei und dass zu diesem Zeitpunkt auch die Österreicher schon leichte Radioaktivität gemessen haben.

"Naja", hat der Meteorologe gesagt, "das ist gar nicht so schlimm, weil bis die Radioaktivität durch unseren vorherrschenden Westwind bei uns wieder anlangt, bis sie um die ganze Erde herumgeht, das dauert einige Wochen." Es hat nicht so lange gedauert, sondern nur ein paar Tage und das war für uns sehr überraschend. Der erste Nachweis der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war am Mittwoch den 30. April 1986. Wir waren gerade bei einer Besprechung im Zimmer unseres Chefs, als die Technikerin von der Ganzkörpermessanlage hochkam und gesagt hat: "Komisch, ich verstehe das nicht. Ich bekomme den Nulleffekt nicht mehr hin." Nulleffekt heißt, dass man vor jeder Messung natürlich den Grundzustand der Radioaktivität feststellen muss. Wir gingen dann runter zur Ganzkörpermessanlage und haben uns an den Messgeräten das Spektrum angesehen. Siehe da, es war Jod. Es war Jod-131. Jod-131 ist ein künstliches Radionuklid, das nur von Kernwaffen oder in diesem Fall von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hervorgerufen wird.

Der nächste Schritt war, von Bonn aus, die Einberufung der sogenannten Strahlenschutzkommission des Bundes. Da drin saßen verschiedene Physiker, Mediziner und Strahlenschützer der verschiedenen Universitäten und Großforschungseinrichtungen. Die haben sich dann noch am 1. Mai darüber gebeugt und haben Verzehrsempfehlungen herausgegeben. Diese Verzehrsempfehlungen waren zum Beispiel: Vermeidung von Frischobst, Vermeidung von Frischgemüse, keine Frischmilch trinken, Aufstallen der Kühe, Wiederholung der Winterfütterung, obwohl das schwierig war, weil kaum Winterfutter noch vorhanden war, um eine größere Kontamination des Körpers zu vermeiden.

Die Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt extrem verunsichert, da es von verschiedensten Seiten teilweise konträre Verhaltensempfehlungen gab. Einerseits hat es geheißen, bleibt in den Häusern, geht nicht mehr raus. Andererseits hat es geheißen, es genügt, wenn ihr euch die Hände wascht und die Schuhe wechselt, bevor ihr ins Haus geht. Und das Allerwichtigste ist, dass ihr möglichst wenig radioaktive Stoffe in den Körper hinein bekommt, sprich, Kontrolle der Lebensmittel und des Aufenthalts im Freien.

Am 30. April abends war ich mit meiner Frau auf einer Veranstaltung "Tanz in den Mai" und während dieser Zeit gab es in München heftige Gewitter, wo offensichtlich auch die Hauptmenge der radioaktiven Stoffe nass niedergeschlagen worden ist.

Die Gewitter waren nicht flächendeckend, sondern örtlich sehr begrenzt. Insbesondere gab es sogenannte Hot Spots im Ebersberger Forst, im Berchtesgadener Land, bei Garmisch, im oberschwäbischen Bereich und insbesondere im Bayrischen Wald, in der Nähe von Zwiesel.

Das hatten wir hier auch später gemessen, dass hier erhebliche Mengen von Cäsium-137 niedergeschlagen worden sind.

In Bayern gab es große Untersuchungsvorhaben, um eventuelle Schädigungen bei den Strahlenexponierten festzustellen. Man hat zum Beispiel untersucht: Schädigungen durch die Einwirkung von radioaktiven Stoffen bei Kleinkindern; ist die Inzidenz von Frühgeburten erhöht, gab es bei Leukämie mehr Fälle, gab es Kindertumore?

Man hat in Bayern nichts festgestellt, obwohl das das hauptbeaufschlagte Gebiet von ganz Deutschland war.

Stand: 20.04.2016

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© Bundesamt für Strahlenschutz