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Umdenken nach Tschernobyl und Fukushima

Anlässlich der Gedenkveranstaltung "Tschernobyl als europäische Herausforderung" zum 25. Jahrestag am 26.04.2011 sprach Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz von 1999 bis 2017, in der Französischen Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt, Berlin, über den Reaktorunfall in Tschernobyl.

Anfang 26.04.2011
Ort Französische Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt, Berlin
Redner Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz

Wolfram König Wolfram KönigWolfram König, BfS-Präsident von 1999 bis 2017

Umdenken nach Tschernobyl und Fukushima

Es sind Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchen, wenn ich den Namen Tschernobyl höre. Das unscharfe Bild vom geborstenen Reaktor 4 durch das Fenster eines Hubschraubers geschossen, das Bild einer jungen Frau, strahlenkrank, auf dem Krankenhausbett sitzend oder das Bild eines Klassenzimmers in der geräumten Stadt Prypjat.

Die Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Doch was ist nach 25 Jahren neben einem Jahrestag (mit einer mehr oder weniger großen medialen Aufmerksamkeit) wirklich als unumstößliche Wahrheit geblieben? Wie werden die unzähligen, unmittelbar betroffenen Menschen mit den Folgen fertig und wie wird ihnen heute konkret geholfen? Welche Konsequenzen wurden aus dem bis dahin schlimmsten Ereignis der friedlichen Nutzung der Atomenergie gezogen? Und wie kann man die gemachten Erfahrungen für eine bessere Zukunft nutzen und verhindern, dass die Halbwertzeit der Erinnerung nur einen Bruchteil der aus dem Reaktor ausgetretenen radioaktiven Nuklide besitzt?

Was war in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 passiert?

Was war in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 passiert? Bei einem Versuchsprogramm kam es durch Bedienungsfehler der Betriebsmannschaft zu einer unkontrollierbaren Energiefreisetzung in den Brennelementen des Reaktors 4. Das Kühlmittel verdampfte, der Reaktor explodierte und das Reaktorgebäude wurde gesprengt. Auf Grund des Graphitbrandes und der Explosion wurden in kurzer Zeit große Mengen radioaktiver Stoffe in große Höhen geschleudert.

Diese Freisetzung von Radioaktivität führte dazu, dass sehr viele Menschen verstrahlt wurden. Von außen durch die abgelagerten Radionuklide und von innen, weil sie radioaktive Stoffe über die Atemluft, über die Lebensmittel und über das Trinkwasser in den Körper aufgenommen haben. Allein in den Jahren 1986 und 1987 waren etwa 200.000 Menschen als Rettungskräfte und Aufräumarbeiter (sogenannte Liquidatoren) innerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone um das havarierte Kernkraftwerk eingesetzt. Weitere Aufräumarbeiten gab es bis etwa bis ins Jahr 1990. Insgesamt waren für den Einsatz circa 530.000 Liquidatoren registriert.

Neben den Beschäftigten und Einsatzkräften waren insbesondere auch Kinder und Jugendliche von den Strahlenbelastungen betroffen. Die Gebiete mit der höchsten Strahlenbelastung befinden sich in der Ukraine, der Russischen Föderation und in Weißrussland. In diesen Gebieten lebten zum Zeitpunkt des Unfalls etwa fünf Millionen Menschen.

Die Strahlenbelastung durch die freigesetzte Radioaktivität fügte ungezählten Menschen gesundheitliches Leid zu

Die Strahlenbelastung durch die freigesetzte Radioaktivität fügte ungezählten Menschen – insbesondere in der Region um Tschernobyl - gesundheitliches Leid zu. Darüber hinaus sind die sozialen und gesellschaftlichen Traumata die größten Probleme für die Bevölkerung in den Gebieten um Tschernobyl. Eine Zone im Umkreis von 30 Kilometern wurde evakuiert. Etwa 340.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Die Katastrophe von Tschernobyl hat sehr viele Menschen sozial entwurzelt. Noch heute müssen die Volkswirtschaften, insbesondere in der Ukraine und Weißrussland, nicht unwesentliche Teile ihres Staatshaushaltes und ihres Bruttosozialproduktes für die Bewältigung der Folgen der Katastrophe von Tschernobyl aufwenden. Anlässlich des 20. Jahrestages des Unfalls sagte Michail Gorbatschow, ich zitiere: "der Reaktorunfall in Tschernobyl war vielleicht mehr noch als die von mir begonnene Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später." [Zitatende]. Das Vertrauen, der Staat garantiere die Sicherheit seiner Bevölkerung, war in den Grundfesten gebrochen.

An dem heutigen Tag gehen meine Gedanken zunächst zu den Menschen, die direkt oder indirekt immer noch unter den Folgen der Reaktorkatastrophe leiden. Insbesondere möchte ich diejenigen erwähnen, die unter Einsatz ihrer Gesundheit und ihres Lebens versucht haben, noch Schlimmeres zu verhindern, indem sie unter anderem in kurzer Zeit den Sarkophag über dem zerstörten Reaktorgebäude errichteten. Ich kann die Verbitterung derjenigen unter ihnen verstehen, die sich heute mit ihren gesundheitlichen Folgeproblemen von staatlichen Institutionen alleingelassen fühlen. Und ich denke an diejenigen, die als Kinder oder Jugendliche mit den Folgen von Tschernobyl konfrontiert wurden beziehungsweise in eine Welt hineingeboren wurden, die ihnen kaum eine Zukunftsperspektive bot.

Ich weiß, dass sich heute hier viele Menschen versammelt haben, die sich seit langer Zeit mit großem ehrenamtlichem Einsatz für diese Menschen engagieren, die sich alleingelassen fühlen. Ich möchte schon an dieser Stelle meinen Respekt und meinen Dank dafür aussprechen.

Nach dem 26. April 1986 hielt die Welt die Luft an

Nach dem 26. April 1986 hielt die Welt die Luft an. Es war das passiert, was nach Auffassung der Kernenergiebefürworter nicht passieren konnte, Atomkraftgegner aber immer wieder als mögliches Szenario einer außer Kontrolle geratenen Hochrisikotechnologie vorhergesagt hatten. Das sogenannte Restrisiko hatte einen Namen bekommen - Tschernobyl. Hilflos mussten Staatenlenker mit ansehen, wie bisher unverrückbare Wahrheiten ins Rutschen gerieten. Die Bevölkerung war weit über die Staatsgrenzen der damaligen Sowjetunion hinaus zutiefst verunsichert. Große Ausbauprogramme der Kernenergie wurden in der ganzen Welt auf Eis gelegt und später ganz aufgegeben. Staaten, wie Österreich oder Italien, die gerade in die Atomenergie einsteigen wollten, brachen den Weiterbau ihrer Reaktoren ab. Und auch für mich, der die Zeit der großen Demonstrationen in Westdeutschland gegen die Nutzung der Atomenergie miterlebt hat, war es nicht vorstellbar, dass es nach Tschernobyl jemals wieder einen größeren Resonanzboden für den Neubau von Kernkraftwerken geben könnte.

Doch ich hatte die Macht der Bilder von Tschernobyl überschätzt.

Langsam verschwanden die täglichen Meldungen aus den Wohnzimmerstuben via Fernsehen. Mit der Fertigstellung des Sarkophags schienen offenbar nicht nur tausende Tonnen verstrahltes Material beerdigt worden zu sein, sondern auch die Bilder von der bis dahin größten Reaktorkatastrophe der Menschheit. Das Vakuum, das diese fehlenden Bilder hinterließen, wurde nicht zuletzt durch Kampfesszenen innerhalb der Wissenschaft und der politischen Lager ausgefüllt. Es ging bei der Frage nach den Ursachen für die Reaktorkatastrophe und die daraus abzuleitenden Konsequenzen um nicht weniger, als um die Zukunft eines der großen gewinnträchtigen Projekte der Industrienationen. Und nicht nur das: Die friedliche Nutzung hatte von Beginn an immer auch eine zweite Seite der Medaille: Die Öffnung des Weges für die militärische Option. So war es nicht verwunderlich, dass sich schleichend die Fragen und Interpretationen änderten und das Leid der Menschen in den Hintergrund rückte.

Hatte Tschernobyl nicht auch gezeigt, dass selbst beim schlimmsten anzunehmenden Reaktorunfall die Folgen - zumindest aus ferner Sicht - beherrschbar sind? Wurden die Strahlenschäden - gerade in Deutschland - nicht maßlos überschätzt? Und ist es nicht so, dass die Katastrophe insbesondere durch die ungünstigen reaktorphysikalischen und sicherheitstechnischen Eigenschaften des Reaktortyps von Tschernobyl begünstigt wurde?

Die Dynamik des Verdrängens der mit Tschernobyl sichtbar gewordenen Gefahren der Atomenergie beschleunigte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion

Die Dynamik des Verdrängens der mit Tschernobyl sichtbar gewordenen Gefahren der Atomenergie beschleunigte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die mit der Kernenergienutzung einhergehende Tatsache, dass es in jedem der bisher weltweit gebauten Reaktoren durch Versagen von Mensch und Technik zu einer unkontrollierbaren und lang anhaltenden Freisetzung erheblicher Mengen von Radioaktivität kommen kann, wurde mehr und mehr wieder zu einem akzeptierten Risiko.

Erleichtert wurde dieses durch eine eingängige Kommunikation: Es wurde eine feine Linie gezogen zwischen den Reaktortypen westlicher und östlicher Bauart. Es wurde der Eindruck vermittelt, dass ein Super-GAU in westlichen Kernkraftwerken nicht möglich sei. So wurden nicht nur in Deutschland in der politischen und medialen Wirklichkeit plötzlich aus störanfälligen 30 Jahre alten Anlagen die sichersten Kernkraftwerke der Welt, weil sie eben auch im Westen standen. Und die Interessensgruppen der Kernenergie entdeckten den Klimawandel und seine unabsehbaren Folgen für die Umwelt für den angestrebten Stimmungswandel. Den vorerst letzten Höhepunkt bildete in Deutschland jüngst eine große Kampagne der Kernkraftwerksbetreiber, die uns in bemerkenswerter Form erklärten, dass alle Atomkraftwerke bei genauem Hinsehen doch eigentlich nichts anderes als "ungeliebte Klimaschützer" seien. Informationen zu Fragen, wie der konkreten Sicherheit oder des ungelösten Entsorgungsproblems der hochradioaktiven Abfälle blieben einmal mehr außen vor.

Gleichzeitig überschlugen sich in den letzten Jahren die Meldungen über den Wiedereinstieg oder gar den Ersteinstieg verschiedenster Staaten in die Kernenergie. Den traurigen Höhepunkt bildeten Zusagen an Staaten zum Bau von Kernkraftwerken im Nahen und Fernen Osten, die noch vor nicht allzu langer Zeit in der Reihe der sogenannten „Schurkenstaaten“ genannt wurden. Und wenn am heutigen Tag Raketen der NATO-Partner auf die Hauptstadt von Libyen zielen, dann muss daran erinnert werden, dass vor nicht einmal vier Jahren Frankreichs Präsident Sarkozy mit Gaddafi eine Vereinbarung über die Lieferung eines Kernkraftwerks geschlossen hatte.

Ja, die Bilder von Tschernobyl waren verblasst, der Damm schien gebrochen, der Stimmungswandel geschafft. Die Bundesregierung machte noch jüngst ihr Versprechen aus dem Wahlkampf wahr und verlängerte die Laufzeiten der Kernkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre. Eine anlagenspezifische Sicherheitsbetrachtung fand zuvor nicht statt.

In Fukushima gerieten nach einem schrecklichen Erdbeben und einem gewaltigen Tsunami gleich mehrere Reaktoren außer Kontrolle

Doch vor 46 Tagen passierte ein zweites Mal in 25 Jahren ein Reaktorunglück katastrophalen Ausmaßes. In Fukushima gerieten nach einem schrecklichen Erdbeben und einem gewaltigen Tsunami gleich mehrere Reaktoren außer Kontrolle. Und dieser Zustand hält trotz vieler Notmaßnahmen auch sechs Wochen nach dem Ereignis immer noch an.

Der Ereignisverlauf in Fukushima hat sich zum schwersten Reaktorunglück seit Tschernobyl entwickelt. Die gesundheitlichen Folgen in der Region Fukushima lassen sich in Folge der fehlenden Informationen und Kenntnisse bisher noch nicht mit denen von Tschernobyl vergleichen. Fest steht bereits jetzt schon, dass es in der Region um Fukushima zu einer weitreichenden radioaktiven Kontamination von Luft, Boden und Wasser gekommen ist. An zahlreichen Stellen, auch außerhalb der Evakuierungszone, werden teils erhebliche Kontaminationen gemessen. Es ist insofern zu fragen, ob ein ausreichender Schutz der Bevölkerung besteht für den Fall, dass es schlagartig zu einer weiteren Erhöhung der Freisetzung von Radioaktivität kommt. Ein solcher Fall ist derzeit leider immer noch nicht auszuschließen. Die Kontamination der Umgebung ist davon abhängig, wann es gelingt, die unkontrollierte Freisetzung von Radioaktivität einzudämmen und schließlich ganz zu verhindern und über welchen Pfad sich die radioaktiven Stoffe ausbreiten. Was noch passiert und wie viel Radioaktivität noch freigesetzt wird, kann derzeit nicht vorhergesagt werden. Es wird eher noch Monate als Wochen dauern bis von einem kontrollierten Zustand der Reaktoren in Fukushima gesprochen werden kann. Teile der Region werden auf Jahre bis Jahrzehnte, ähnlich wie die Sperrzone um Tschernobyl, nicht mehr bewohnbar und nutzbar sein.

Vom Ablauf her gesehen, sind die Ereignisse in den Reaktoren und Abklingbecken von Fukushima nicht vergleichbar mit den Abläufen seinerzeit im Reaktor 4 in Tschernobyl

Es stimmt: Vom Ablauf her gesehen, sind die aktuellen Ereignisse in den Reaktoren und Abklingbecken von Fukushima nicht vergleichbar mit den Abläufen seinerzeit im Reaktor 4 in Tschernobyl. In Tschernobyl wurde Radioaktivität schlagartig in große Höhen verfrachtet und großflächig verbreitet. Im japanischen Kernkraftwerk Fukushima war dies bisher nicht so und ist infolge der technischen Konstruktion des Kernkraftwerkes auch weiterhin eher unwahrscheinlich. Ein Reaktorbrand wie in Tschernobyl, in dem das als Moderator dienende Graphit des Reaktors den Brand entscheidend befeuerte, ist in den Reaktoren in Japan nicht möglich. Doch wir haben es, wie es ein Zeitungsredakteur ausdrückte, mit einem "Super-GAU in Zeitlupe" zu tun.

In Japan stand am Beginn ein Naturereignis mit Schadensauswirkungen, für die die Sicherungssysteme der Anlage nicht ausgelegt waren und die diese nicht bewältigen konnten. In Tschernobyl war der Ausgangspunkt des Unfalls eine Kombination von technischer Fehlauslegung und menschlichem Versagen. Aber auch für Japan stellt sich die Frage der Unzulänglichkeit menschlichen Planens und Handelns. In der Unglücksregion sind Kernkraftwerke mit einer Störfallauslegung gegen Erdbebenereignisse errichtet worden, die die bekannten Ausmaße in der historischen Betrachtung nicht abdeckten.

Als kurz nach den Ereignissen in Japan die Bevölkerung auch in Deutschland die Frage stellte, ob erneut eine erhebliche radioaktive Belastung der Lebensmittel über den Ferneintrag zu befürchten sei, füllten sich die Feuilleton-Seiten mit Beiträgen zu der sogenannten "German Angst". Ich frage mich, warum es ein Problem darstellen soll, wenn die Bürgerinnen und Bürger eines Landes nicht zuletzt aufgrund gesellschaftlicher Konflikte im letzten Jahrhundert besonders sensibel auf Fragen regierungsamtlicher Sicherheitsgarantien reagieren? Ist diese Reaktion auf ein außer Kontrolle geratenes Kernkraftwerk mit sechs Reaktoren nicht zutiefst menschlich, da wir mit unseren Sinnesorganen keine Möglichkeiten haben, radioaktive Gefahren zu erfassen? Liegt in dieser Sensibilität nicht vielleicht auch eine enorme Chance für zukunftsfähige Entwicklungen und hat diese angeblich überzogene Furcht vor der Atomkatastrophe nicht den Grundstein gelegt für einen "German Erfindergeist", der nicht beim "Atomkraft - Nein Danke" stehen geblieben ist, sondern den Energieerzeugungen der Zukunft den entscheidenden Innovationsschub gegeben hat?

Ich persönlich mache mir jedenfalls mehr Sorgen um diejenigen, die meinen, dass immer störanfälligere und komplexere technische Systeme allein mit weiterer Technik gebändigt werden können und, nach einer kurzen Pause, rufen: "Weiter so". Nein, wir sind angesichts des Desasters von zwei Kernkraftkatastrophen innerhalb von nur 25 Jahren gefordert, grundsätzlich unseren Weg in die Zukunft zu überdenken.

Ebenso wie nach den Ereignissen in Tschernobyl ist heute nach der Katastrophe in Japan die gesellschaftspolitische Debatte über die Atomenergie in Deutschland erneut entflammt

Ebenso wie nach den Ereignissen in Tschernobyl ist heute nach der Katastrophe in Japan die gesellschaftspolitische Debatte über die Atomenergie in Deutschland erneut entflammt. Damals wie heute hat die Debatte um die Kernenergie große gesellschaftliche Bedeutung erlangt und ist in alle politischen Parteien hineingetragen worden.

Die Auseinandersetzung dreht sich heute aber nicht mehr nur um die technische Auslegung der Reaktoren, sondern geht weit darüber hinaus. Das war bei Tschernobyl zunächst anders. Damals sprach der Bayrische Ministerpräsident und ehemalige erste Atomminister, Franz Josef Strauß, von dem Versagen - so wörtlich - eines "kommunistischen Reaktors". Zwar wurden in Folge der sichtbar gewordenen Probleme gesetzliche, strukturelle und technische Maßnahmen ergriffen. Als heute noch sichtbares Zeichen ist die Gründung des Bundesumweltministeriums und später des Bundesamtes für Strahlenschutz zu nennen. Eine grundlegende Infragestellung der Nutzung der Kernenergie durch die Bundesregierung sollte damals jedoch noch nicht stattfinden.

Heute ist die Situation eine andere. Die Bundesregierung hat unter dem Eindruck der Bilder von explodierenden Reaktorgebäuden westlicher Bauart ein Moratorium für die vor fünf Monaten in Kraft gesetzte Laufzeitverlängerung ausgesprochen und eine grundlegende Überprüfung der Sicherheit der Kernkraftwerke in Deutschland angeordnet. Die sieben ältesten Reaktoren wurden hierfür für drei Monate vom Netz genommen.

Parallel hat eine Ethikkommission zu übergreifenden Fragen der Zukunft der Energieversorgung ohne Kernenergie die Arbeit aufgenommen. Noch diese Woche wird sie eine im Fernsehen übertragene Anhörung durchführen. Ich hoffe, dass die Ethikkommission in ihren Bewertungen und Empfehlungen an die Bundesregierung der gesamten Kette der Atomenergienutzung die notwendige Aufmerksamkeit schenkt. Zwar stehen derzeit die Fragen der Sicherheit der Reaktoren im Vordergrund der öffentlichen Diskussionen. Zur Nutzung gehört aber eben auch der Uran-Abbau mit seinen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der dortigen Beschäftigten. Und zur Nutzung gehört insbesondere auch die Frage nach der nach wie vor ungelösten Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. Aber auch direkte und indirekte Subventionierungen, wie die Versicherungsbegrenzung der Kernkraftwerke der Energieerzeugungsunternehmen auf 2,5 Milliarden Euro, wie es sie in Deutschland gibt, gehören auf den Prüfstand.

Ich möchte zum Schluss kommen.

Die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Super-GAU in einem der 443 weltweit betriebenen Kernkraftwerke ist entsprechend der Auslegungskriterien der Kernkraftwerke klein. Aber sie ist nicht gleich Null, insbesondere dann nicht, wenn bei der Auslegung praktisch denkbare Ereignisse nicht berücksichtigt wurden. Und das Restrisiko ist nicht mehr nur hypothetisch, sondern wird zur realen Gefahr. Das war die Lehre aus Tschernobyl, und ist es jetzt erneut aus Fukushima. Die beiden Katastrophen zeigen die Fehlbarkeit des Menschen auf. Die Fehlbarkeit insbesondere darin, die Konsequenzen aller möglichen Einwirkungen auf komplexe technische Anlagen umfassend abzuschätzen beziehungsweise Wechselwirkungen mit und innerhalb dieser Anlagen zutreffend einschätzen zu können.

In der Bundesrepublik haben inzwischen alle im Parlament vertretenen Parteien den Ausstieg aus der Kernenergie in ihre Programme aufgenommen und dieses auch gesetzlich verankert. Es war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sich nach Tschernobyl eine über die Jahre konstante Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland gegen die Hochrisikotechnologie ausgesprochen hat. Nach Fukushima gibt es die Chance, dass ein führendes Industrieland den Beweis antritt, dass eine sichere und bezahlbare Energieversorgung mit erneuerbaren Energien in absehbarer Zeit möglich ist. Es wäre ein starkes Signal an all diejenigen, die immer noch in der Vergangenheit die Zukunft suchen.

Was wir brauchen sind nicht weitere Bilder von explodierten Reaktoren, von evakuierten Städten oder von Menschen auf der Flucht vor nicht sichtbaren Gefahren radioaktiver Wolken. Was wir brauchen sind Bilder, die weltweit den Zugang zur Energieversorgung in umweltverträglicher, nachhaltiger Form zeigen.

Kurz: Bilder, die Lust auf Zukunft machen!

Stand: 26.04.2011

© Bundesamt für Strahlenschutz